Geschafft. Es ist der 24.12., 16 Uhr. Ich lasse mich erschöpft aufs Sofa fallen. Endlich Urlaub. Ich höre „Last Christmas“ auf YouTube und singe laut mit. Viele können das Lied nicht leiden, bei mir gehört es einfach dazu.
Ich habe gute Laune, denn dieses Jahr fiel ein großer Stressfaktor weg: Weihnachtsgeschenke für die Nachbarn besorgen. In meiner Straße wohnen drei Familien, mit denen ich ganz gut auskomme. Jedes Jahr aber dasselbe Problem: was schenke ich denen zu Weihnachten? Drei Familien, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Drei Familien, die eigentlich schon alles haben. Was soll man da noch beisteuern? Ich habe dieses Jahr eine klare Ansage gemacht: „ich schenke euch nichts und ich will auch nichts“. Zustimmung von allen Seiten. Herrlich. Ich habe nichts gekauft, nicht mal auf Reserve. Ich schließe die Augen, atme tief ein und freue mich auf ein paar freie Tage mit der Familie. Es klingelt an der Tür. Ich schrecke hoch. Ich erwarte niemanden. Eigentlich will ich nur meine Ruhe und überlege kurz, ob ich überhaupt aufstehen soll. Doch die Neugier siegt. Ich öffne einen Spalt und blicke in 4 freundliche Augen. Bärbel und Knut Scheuffele von Gegenüber, beide Mitte 60, frisch gebackene Rentner. „Hallo Carmen“.
Carmen bin übrigens ich. Mitte 40. Arbeite seit kurzem in einer Werbeagentur, bin verheiratet und eigentlich ganz zufrieden mit mir und meinem Leben. Bis vor einer Minute war ich das auf jeden Fall. Da stehen sie also, die zwei netten Nachbarn und sagen mir einfach mal so frech ins Gesicht: „Hallo“. Was aber noch schlimmer ist, ist das Geschenk in ihrer Hand. Ein selbstgestrickter Schal in grün-rosa. Ich hasse rosa. Mir wird übel. „Ja, wir wissen, du willst dieses Jahr keine Geschenke, aber wir haben trotzdem was für dich.“ Strahlend überreichen sie mir den hässlichen Schal, den ich definitiv nicht tragen werde. Ich kann nicht mal Danke sagen, denn in mir herrscht ein gedankliches Chaos. Was habe ich im Haus, was ich nicht mehr brauche? Plötzlich ein Geistesblitz. Ich lasse die zwei im Türrahmen stehen und renne ins Wohnzimmer. Dort steht sie. Die hässliche Schale vom Schrottwichteln meiner Kollegen. Voller Stolz, so, als ob das alles geplant und gewollt ist, trage ich sie in Richtung Haustüre. Bloß schnell weg damit. Bärbels Augen fangen an zu leuchten. „Das ist aber eine schöne Schale. Das wäre doch nicht nötig gewesen.“ „Nein“, denke ich, „es wäre wirklich nicht nötig gewesen, schon allein, weil wir eine Abmachung hatten. Keine Geschenke dieses Jahr!“
Ich schreie laut auf, als ich die Türe wieder schließe. Beruhigen kann ich mich aber nicht, denn als ich aus dem Fenster auf die verschneite Straße blicke, muss voller Entsetzen feststellen, dass die netten Scheuffeles schnurstracks zu den Marcellos rüber wackeln. Fancesca und Luca, eine nette junge italienische Familie, betreibt die Eisdiele im Ort. „Das darf doch echt nicht wahr sein. Wenn die denen jetzt was schenken, dann muss ich das auch tun“. Ich schaue den Schal an. Eine andere Möglichkeit habe ich nicht. Ich schnappe ihn ohne zu überlegen und mache mich auf den Weg. Die Marcellos freuen sich so sehr, als hätte ich ihnen eben 5000Euro geschenkt. Haben die alle keinen Geschmack? Voller Stolz überreichen sie mir ein Porzellanengel in Gold. Er macht mir Angst. Haben sich eigentlich alle Nachbarn gegen mich verschworen? Wir hatten doch eine klare Verabredung. Verräter. Alle miteinander. Wieder zu Hause überlege ich gerade, was ich mit dem Engel anfangen soll, als es schon wieder klingelt. Nein, nicht auch noch Martin und Claudia Schneider-Müllerhans. Doppelnamen. Typische Lehrer. Aber im Großen und Ganzen ganz nett. Sie wohnen etwas weiter die Straße runter. Claudia hat ein lautes Organ. Ich erkenne sie durch die Wohnungstür. Ich schaue dem Engel in die Augen. Er muss dran glauben. Ich öffne die Türe und überreiche ihn feierlich. Claudia quiekt vor Freude. Innerlich schüttel ich nur den Kopf. „Wir haben auch eine Kleinigkeit für dich. Gar nichts schenken fanden wir dann doch ein bisschen doof“, säuselt sie. „Ich finde euch alle doof“, denke ich.
Ich starre auf das Geschenk, nehme es an mich, unfähig etwas zu erwidern und schließe die Türe. Ich sinke zu Boden. Minutenlang schaue ich auf das, was ich in den Händen halte: es ist meine Schale. Meine hässliche Schale vom Schrottwichteln.
Ich nehme mein Handy, mache ein Bild und poste es auf Facebook: „zu verschenken“. Und drunter schreibe ich: „Liebe Nachbarn. Schön, dass wir uns dieses Jahr nichts geschenkt haben. Denn genau so war es doch, oder?“
